dialogues & stories

19. May 2001 - 01. June 2001 Museum Küppersmühle, Sammlung Grothe

„dialogues & stories. Neue Formen des Erzählens in der Medienkunst“ ist der Titel der im Folgenden zu beschreibenden Ausstellung, die wir als GastkuratorInnen im Museum Küppersmühle Sammlung Grothe, in einem für unsere sonstigen Aktivitäten recht ungewöhnlichen Ambiente durchführten. Handelt es sich doch bei der genannten Sammlung um eine Akkumulation zentraler Werke deutscher Malerfürsten ersten Ranges (-innen sucht man hier mit wenigen Ausnahmen vergebens). Der Titel sollte dementsprechend auf Standardisiertes, „Dialog und Erzählung“, verweisen und gleichzeitig eine Hinwendung zur Innovation, „Neue Erzählungen“ und „Medienkunst“, suggerieren. Es handelte sich bei der Betitelung um einen Organisationskompromiss, der wenig über die Ausstellung selbst aussagt, sondern mit dem Hinweis auf das „Neue“ eher in die Irre führte.

Es ging stattdessen um die filmischen Strukturen raumbezogenen Erzählens mittels Videoinstallationen, die seit Beginn der 90er-Jahre zu den selbstverständlichen, souveränen Praktiken von KünstlerInnen gehören. Die Worthülse „neu“ brauchte hier also gar nicht bemüht werden – wozu auch? Vielmehr sind die Kunstwerke der Ausstellung mit dem Rücken zur Zukunft aus der Gegenwart heraus auf die Vergangenheit schauend konzipiert. Ein Geschichtsmodell also, das Geschichte gegen den Strich bürstet. Die Ausstellung zeigte Kunstwerke, die dieser Strategie des „Wi(e)dererzählens” im Verweis auf historische Motive folgen. Das „Storyboard“ der Ausstellung wiederum wurde sowohl in Referenz auf das Sujet der filmischen Narration in der Videokunst als auch im Hinblick auf die bildgewaltigen Strukturen der gastgebenden Institution entwickelt.

KünstlerInnen und Werke

 

Runa Islam, Gaze of Orpheus, 1998

Videoprojektion, Farbe, 3’, Loop
Courtesy: White Cube, London

Man betrat die Ausstellung zunächst durch eine Hängung von Grafiken Markus Lüpertz’ – allesamt Porträts –, um aus der Distanz (immerhin ca. 20 m) das erste Exponat von „dialogues & stories“ zu sehen: „Gaze of Orpheus“ von Runa Islam. Man schaute auf den Hinterkopf einer Frau, der in einer stark verzögerten Drehung sich allmählich dem Betrachter zuwendet. Im Moment der Erahnung des Profils der überdimensionierten Protagonistin („Eurydike“) beschleunigt sich die Drehung ihres Kopfes und sie starrt den Betrachter mit weit geöffneten Augen an, nur um im selben Augenblick im Schwarzbild der Videoprojektion zu entschwinden. Motiviert durch das Wissen um die technische Struktur des Loops, erwartet der Betrachter nun an gleicher Stelle, innerhalb des gleichen Ablaufschemas den selben Verlust – diesmal allerdings verstrickt in das Begehren, den Blick zu „erhaschen“.

In der Arbeit von Runa Islam sind die wesentlichen Elemente von „Orpheus und Eurydike“ verdreht. Im Ursprungsmythos kann Orpheus mittels seiner „schöpferischen Kraft“ – dem Götter betörenden Gesang zu seiner Lyra – seine verstorbene Gattin (Eurydike) zunächst aus dem Hades befreien. Doch im Übergang vom Schattenreich ins Licht, durch Missachtung des Gebots, sich nicht nach ihr umzusehen, verliert er sie wieder. Bei Runa Islam dagegen ist es die Frau (= Eurydike?), die sich dem Betrachter (= Orpheus?) zuwendet. Sie fällt zwar ähnlich wie im Mythos im Moment des Erblickens in das Schattenreich zurück, jedoch nur, um aus dem Schwarz der Projektionsfläche als endlose Wiedergängerin den Betrachter in die mechanische Konstruktion filmisch reproduzierbaren Begehrens zu verwickeln. Der „Blick des Orpheus“ markiert den des „Anderen“, des Betrachters, der dem Ich/Auge des projizierten Frauenbildnisses hier jedoch nicht näher rückt als an die Grenze des fortwährenden Begehrens, seine eigene Existenz dem Bild abzuringen: die Bestätigung „Du bist (Ich bin) da“.

In „Gaze of Orpheus“ ist allerdings noch ein anderes Motiv am Werk: Es ist das klassische Filmmotiv des schnell über die Schulter zurückgeworfenen Blicks, Ausdruck einer zu erwartenden Bedrohung, die oft mit der Gewissheit des/der ProtagonistIn einhergeht, im nächsten Moment von der „Bildfläche“ zu verschwinden. Erneut in eine sich endlos wiederholende, auf ewig hinausgeschobene Erwartungshaltung fixiert, verbleibt der Betrachter im Vakuum einer nicht eingelösten, aber möglichen Erzählung. Über dem Eingang zu den weiteren Kunstwerken der Ausstellung platziert, bildete der „Blick des Orpheus“ jene unausweichliche und letztendlich unaussprechliche Lücke ab, an welcher der Anblick des optional zu Erschauenden immer an sich selbst zerbricht und in der „Mündigkeit“ der Sprache aufgeht.

Runa Islam, Dead Time, 2000

16mm Filmprojektion, Looptisch, Startvorrichtung, Farbe, Ton, 7’
Courtesy: White Cube, London

Die Videoinstallation „Gaze of Orpheus“ bildete somit ein „Eingangsportal“ zur Ausstellung, das einem emotional übersteuerten Logo gleich auf die Aspekte der Bild-Betrachter-Relation und mittels einer stark reduzierten und formalisierten Filmstrategie, auf das Sujet der Ausstellung verwies. Bevor der Betrachter durch dieses Portal zu den anderen Kunstwerken gelangte, war in der offenen Raumsituation links neben dem Eingang eine weitere Arbeit von Runa Islam zu sehen. Auf einer 6 x 10 m großen, schwarz gestrichenen Wand war mittig eine Projektionsfläche zu sehen, der gegenüber ein 16mm-Filmprojektor stand. Dieser musste per Knopfdruck gestartet werden und stoppte am Ende des Filmes automatisch. Anders als bei „Gaze of Orpehus“ war hier folglich ein Film mit klarem Anfang und Ende zu sehen, der bestimmten Schemen dramaturgischen Erzählens folgt.

Er zeigt zunächst das aus leichter Untersicht gefilmte Gesicht einer Frau, deren Blick ins Leere schweift. Dieser Szene folgt ein Schwenk über ein diffus gehaltenes Stadtpanorama. Dann befindet sich die Kamera in einem Interieur und ist zunächst auf die geschlossenen Jalousien eines Fensters gerichtet. Von hier aus tastet sich die Kamera mit nur schwacher Vordergrund- und Tiefenschärfe durch den Raum und landet schließlich auf dem Kopf einer Frau, der auf einem Tisch auflehnt. Ihr Gesicht spiegelt sich in der blank polierten Tischplatte, auf der sie wenig später einen goldenen Ring einem Kreisel gleich in Bewegung setzt, dessen zeitlich stark gedehnte Drehungen die Kamera in der Schlusssequenz fokussiert. Parallel mit der Projektion startet eine allmählich anschwellende Melodie, in die sich die Drehgeräusche des kreiselnden Ringes nahtlos einfügen, um am Ende der Filmsequenz durch diesen Ton dominiert zu werden.

Der Titel dieser Arbeit, „Dead Time“, spielt auf eine von Michelangelo Antonioni entwickelte filmische Erzähltechnik an. Diese macht sich „tote Zeit“ zunutze, das heißt Momente der Ereignislosigkeit, um zum Beispiel in der Suspension, der leergeräumten Zeit, Übergänge zwischen der „realen Welt“ und surrealen Traumsequenzen stattfinden zu lassen. Zugleich bildet diese „dead time“ eine Methodik zur Herstellung von simultanen, non-linearen Erzählmustern ab, die eine sich spiralförmig aufbauende Verknüpfung zwischen unterschiedlichen Erzählsträngen ermöglicht.

Runa Islam entrümpelt diese Methode von jeglicher fixierbaren Narration und baut sie zu einer selbstreferenziellen, um sich selbst kreiselnden, spiralförmigen Bewegung auf, deren Spannung zu nichts führt als dazu, dass der Betrachter am Ende das bestätigt bekommt, was er längst erwartet: der Ring fällt, der Film endet. Das Raum-Zeit-Kontinuum bleibt stellvertretend in der Stille des realen Ausstellungsraumes zurück: zwischen der weißen Leinwand auf schwarzem Grund und der Apparatur zur Bildgenerierung.

Franciska Lambrechts, dialogues, 1995 – 2001

vierteilige Videoinstallation (16mm), synchronisiert, Farbe, Ton, Loop, ca. 8’

Wenn man durch das „Portal“, das heißt unter dem wachenden Blick des „Orpheus“, hindurch die weiteren Räume der Ausstellung betrat, begegnete dem Besucher zunächst die Videoinstallation „dialogues“ von Franciska Lambrechts.

Die „Dialoge“ dieser Arbeit basieren auf dem Roman „La Noia” des italienischen Schriftstellers Alberto Moravia. Die Künstlerin bezieht sich allerdings weniger auf die im Roman erzählte Geschichte, sondern greift vielmehr eine Dialogstruktur auf, deren Frage-Antwort-Relationen stellvertretend für eine spezifische Struktur des Sprechaktes steht: der penetrierenden Befragung, des Verhörs, das den Befragten auf nichts anderes als die Bestätigung dessen festlegt, was der Fragende zu hören wünscht.
Auf subtile, fast klaustrophobische Weise artikulieren sich in den von Lambrechts inszenierten „Dialogen“ die unterschiedlichen sozialen und psychischen Beziehungsmuster innerhalb des Systems „Familie“, ausgetragen zwischen drei meist im Close-Up zu sehenden Personen, die zu zwei parallel laufenden, vermeintlichen Dialogsituationen gruppiert sind. Dino, ein junger Mann, tritt in der Rolle des Sohnes zur Figur der Mutter und als Liebhaber (?) oder Bruder (?) zur Figur der Cecilia, einer jungen Frau, auf. Die „Unterhaltungen“ kreisen um den sterbenden bzw. verstorbenen Schwiegervater (?), Vater, Ehemann und Maler, in die sich permanent Erinnerungen aus dem familiären Alltag einschreiben.

Die komplex verwobenen Dialoge sind von Brüchen durchzogen. So beziehen sich die Dialogpartner mit ihren Blicken und Gesten zum Beispiel nicht aufeinander, es handelt sich vielmehr um introvertierte Porträts denn um einen zwischenmenschlichen Sprechakt. Während der Sohn/Geliebte die „Gespräche” durch seine verhörartigen Fragen dominiert, mit denen er sowohl Antworten auf den Tod als auch die Bestätigung seiner selbst sucht, scheinen die beiden Frauen sich in ihr „Sprechen“ zurückzuziehen. In der Wiederholung profaner, durch aggressives Fragen eingeforderter Beschreibungen von Alltäglichkeiten, versucht Dino dabei ein System des Erinnerns zu konstruieren, das einem einzigen Ziel zu folgen scheint: permanent am Tod vorbeizufragen.

Betritt man den Raum der Installation befindet man sich vor einer großen frei hängenden Projektionsfläche an deren linken Ende und im 90° Winkel dazu eine zweite, kleinere Projektionsfläche installiert ist. Die ersten beiden Projektionen – die „Dialoge“ zwischen Cecilia und Dino – befinden sich nebeneinander liegend am rechten Rand der großen Projektionsfläche. Das Bild der Mutter ist etwas kleiner auf dem linken Rand desselben Screens zu sehen. Dies ergibt mit der zweiten Projektion von Dino auf der kleineren, über Eck angeordneten Projektionsfläche das zweite Dialogfenster. Da die Bilder nicht screenfüllend projiziert werden, funktionieren die freihängenden Projektionsleinwände nicht nur als Bildträger, sondern auch als halbtransparente Raumteiler.

Der Betrachter ist zunächst in das Gespräch von Dino und Cecilia involviert. Durch die fehlende akustische Trennung der vier parallelen Sprechakte entsteht der Eindruck einer Kakophonie aus Sprachfetzen, die sich jedoch auflöst, sobald der Betrachter sich direkt unterhalb der Lautsprecher und frontal zu den beiden Bildern der ersten „Paarung“ befindet. Der geglückten Verortung der SprecherInnen folgt allerdings die nächste Verschiebung. Denn die unserer Wahrnehmung so vertraute Gleichzeitigkeit von „Sprechen hören“ und „Mundbewegung sehen“ läuft hier scheinbar unkontrolliert „aus dem Ruder“: mal verläuft der Sprechakt synchron, mal asynchron, verzögert zur Mundbewegung. Die ProtagonistInnen haben die zu hörenden Texte unabhängig von den gedrehten Szenen abgelesen. Diese wurden in der Postproduktion nachträglich über die Bilder gelegt. Dementsprechend wirken die Stimmen nicht nur verschoben, sondern auch wie ein vorgelesener Text, unangenehm emotionslos in Relation zu den sich meist im Close-Up so nahe kommenden Personen.

Auf subtile Weise setzt sich die Asynchronität zwischen Bild und Sprache sowie zwischen dem penetrierenden Sprechakt und der zerrütteten Kommunikation auch auf der Ebene der konkret räumlichen Ereignisstruktur der Installation fort. Die halbtransparente große Projektionsfolie ermöglicht es, die drei Bilder – Dino, Cecilia, Mutter – sowohl auf deren Vorder- als auch auf deren Rückseite zu sehen, wobei das Paar Dino-Cecilia, das im Gegensatz zur Mutter von vorne projiziert ist, von der Rückseite des Screens aus betrachtet wesentlich diffuser und außerdem spiegelverkehrt erscheint. Sobald man also auf die Rückseite der großen Projektionsleinwand, quasi in den Innenraum der Installation tritt, um das Duo Dino-Mutter genauer zu betrachten, verliert sich zugleich die Präsenz der anderen beiden DialogpartnerInnen. Franciska Lambrechts schichtet, überlagert und verschiebt in „dialogues“ die Fragmentierung des Sprechaktes auf allen Ebenen des Bildes: in Relation zur Absenz des Sprechens in der Szene ebenso wie zum Verlust des Dialograumes im konkreten Ausstellungsraum. Sie führt dabei anstelle von Dialogen das Scheitern von Sprache, von „Kommunikation“ selbst vor.

Teresa Hubbard/Alexander Birchler, Gregor's Room II, 1999

Video, übertragen auf DVD, Loop, 5’ 25’’; Courtesy: Staatsgalerie Stuttgart

Ein weiteres Kunstwerk in der Ausstellung, das sich auf eine literarische Vorlage bezieht, war die Videoarbeit „Gregor’s Room II“ von Teresa Hubbard / Alexander Birchler. Der Titel referiert auf Gregor Samsa, den Hauptakteur von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“.

Man betritt einen völlig abgedunkelten Raum, auf dessen Stirnseite wandfüllend das Videobild projiziert wird. Es zeigt das nach Kafkas Erzählung rekonstruierte Zimmer Gregor Samsas, in dem sich ein Mann in zeitgenössischer Kleidung aufhält. Offensichtlich ist er mit Aufräumen und Umzugsvorbereitungen beschäftigt. Er verpackt Gegenstände in einen Karton, fegt das Zimmer oder macht eine Pause, einmal auf dem Bett liegend, ein anderes mal einen Apfel verspeisend. Diese vier Grundszenen, die in ihrer Wiederholung den gesamten Loop der Videoarbeit bestimmen, sind räumlich wie zeitlich zerlegt. Zwischen jeder Szene liegt eine schwarze „Strecke“, die der Abfolge der Geschehnisse eine deutlich von links nach rechts verlaufende Struktur (Leserichtung?) gibt: Von links nach rechts schiebt die Spielszene den schwarzen Balken aus dem Bild heraus bis sie die Projektionsfläche vollständig ausfüllt um im weiteren Verlauf am rechten Rand langsam wieder zu verschwinden. Dabei wird sie von links durch ein folgendes Schwarzbild aus der Projektion heraus gedrückt, bis dieses dann die Fläche ausfüllt, nur um schließlich wieder durch eine Spielszene verdrängt zu werden …

Dabei ist es von Bedeutung, dass sich die Spielszenen ebenso wie der schwarze Balken zwischen den schwarzen Rändern des realen Projektionsraums bewegen und somit entweder die Perspektive auf den Handlungsraum frei geben oder eine temporäre, räumlich vollständig entrückte „Black Box“ erzeugen: quasi alternierend Erzählverdichtungen und „Textstreichungen“ vorführen.

Erzählt wird aus der Sicht eines „Danach“ (Aufräum-, Umzugsarbeiten) und damit auch eines Vergessens der Geschichte jenes Handlungsreisenden, der eines Morgens als Ungeziefer erwacht. „Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden“ (1) , so beschreibt Kafka die Selbstvergewisserung Gregor Samsas auf sein vertrautes Umfeld. Die Rekonstruktion „der vier wohlbekannten Wände“ ist der erste Schritt von Teresa Hubbards / Alexander Birchlers Auseinandersetzung mit dieser surreal wie fatal realistischen Erzählung Kafkas. Doch eine Rekonstruktion zu welchem Zweck? Denn wenn die Szenen Schritt für Schritt im Akt des Aufräumens von den detailgetreuen Requisiten entleert werden und sich jede Handlung in ihrem räumlich wie zeitlich zergliederten Ablauf auf diese Entleerung, diese Streichung von konkreten Daten bezieht, bleibt am Ende nur Raum. Dieser Raum ist dann aber nach wie vor „Gregor’s Room“, ein zwar von den Kleinteilen der Erzählung entleerter Raum, jedoch zugleich das genaue Nachbild aus dieser Geschichte.

„… – klopfte es vorsichtig an die Tür am Kopfende des Bettes, ‚Gregor’ rief es – es war die Mutter – …“. (2) Der erste Kontakt Gregor Samsas zur „Außenwelt“ nach seiner Verwandlung. Im selben Textabschnitt melden sich nacheinander noch der Vater und die Schwester – immer nur von ferne durch die zwei weiteren Türen des „zu kleinen Menschenzimmers“ rufend. Im Verlauf der Geschichte wird auch das Fenster zum Dreh- und Angelpunkt des Außen: als Öffnung zur realen Welt, zur belebten Stadt, zum Ausblick, der für das Ungeziefer Samsa auf Grund der Verkümmerung seiner Sehorgane nur noch den Eindruck hinterließ, „in eine Einöde zu schauen, in welcher der graue Himmel und die graue Erde ununterscheidbar sich vereinigten.“ (3) Die Introspektion seiner Protagonisten konstruiert Kafka in seinen Romanen und Erzählungen häufig durch Architektur.

„Die Verwandlung“ wird in ihrer melancholisch gebremsten Dramaturgie ausschließlich aus der Innensicht des benannten Zimmers her erzählt. An den Grenzen des Raumes konstituiert sich die Begrenztheit des Ich. An seinen Öffnungen manifestiert sich das Missgeschick, eines Außen zu bedürfen und ein Außen zu haben. Durch den Raum hindurch verläuft die Kommunikation über Gregor Samsas Unglück. Teresa Hubbard / Alexander Birchler zeigen vier durch vier schwarze „Strecken“ getrennte Szenen. Gefilmt werden diese Szenen von Außen nach Innen durch die vier auch bei Kafka beschriebenen Öffnungen des Zimmers: drei Türen und ein Fenster. Selbst jene Perspektive, die durch die Öffnung der Tür entlang der Kante des Bettes zum Fenster hin verläuft, wird exakt der Erzählung nachempfunden. Bloß ist bei Hubbard / Birchler jede Perspektive um 180° gedreht, das heißt sie verschiebt sich von der Introspektion des „Ungeziefers“ zur distanziert aufzeichnenden Kamerafahrt, die sich um die Außenhaut des Raumes dreht. Der schwarze Balken im Bild entsteht somit immer dann, wenn die Kamera zwischen den Öffnungen zum Raum hin an den Außenflächen der Kulisse entlangfährt. Im Wechsel zwischen schwarzer Wand und Durchblick schiebt sich der Raumausschnitt einem Guckkasten gleich am Betrachter vorbei – gleichmäßig, eintönig den Protagonisten in seinem Tun beobachtend, bis er wieder durch das Schwarz verdrängt wird oder anders herum, bis der Kamera die Einsicht in die Handlung verwehrt wird. Streichung, Diskontinuität und Auslassung sind eingebettet in den konkreten, räumlich-zeitlichen Verlauf der Kamerafahrt.

Alles in „Gregor’s Room II“ erscheint als direkter Verweis auf die Erzählung von Kafka, allerdings nur auf dessen räumlich-perspektivische Erzähltechnik zielend, so dass bei Hubbard / Birchler jedwede bloß illustrative Verdopplung der Geschichte verweigert wird.
Im Verlauf einer Szene isst der Protagonist einen Apfel – jene Frucht, die dem Ungeziefer Gregor Samsa eine faulende Wunde zufügt. Während der Akteur das Requisit eines dramatischen Handlungsverlaufs verspeist, fährt sein suchender Blick den Raum ab und verweilt kurz auf dem Foto einer „in lauter Pelzwerk gekleideten Dame“ (4), welches, bedingt durch die vorbeiziehende Kamera, vom Kopf des Protagonisten allmählich verdeckt wird. So treiben Teresa Hubbard /Alexander Birchler jeden Verweis in das Feld einer zirkulär offenen Interpretation zwischen die methodischen Strukt uren der Erzählung und der ungeklärten Evidenz der „Wi(e)dererzählung”.

Stan Douglas, Win, Place or Show, 1998

2-Kanal-Videoprojektion, Farbe, 4-Kanal-Ton
204.023 Variationen mit einer durchschnittlichen Laufzeit von jeweils 6’

Zwischen Rekonstruktion und Erfinden, zwischen Handlungskomprimierung und endloser Dehnung, zwischen medialer Übersetzung und historischen Fakten bewegt sich auch Stan Douglas’ Videoinstallation „Win, Place or Show“. Allerdings geht Stan Douglas nicht von der Fiktion einer literarischen Vorlage aus, sondern von der Fiktion eines städtischen Masterplans, der den Vorstellungen der funktionellen Stadt der 50er- und frühen 60er-Jahre folgt.

Die funktionelle Stadt, die eine Aufteilung der Stadt in strikt voneinander getrennte Funktionszonen – Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr – vorsah, war auch Grundlage, der in den 50ern entwickelten Überplanung von Strathcona, einem Vorort Vancouvers. Dort sollte nach Abriss der alten Bausubstanz eine Arbeiterwohnsiedlung im Stile der „Schubladenfunktionsarchitektur“ modernistischer Prägung entstehen. Letztendlich realisiert wurden jedoch nur zwei der Gebäudekomplexe, da durch den Widerstand der „Alteingessenen“ das Vorhaben gestoppt wurde. Stan Douglas, der für „Win, Place or Show“ eine Wohneinheit dieser nichtrealisierten Siedlung nachbaute, erzählt uns also eine Geschichte, die so nicht hätte sein können, da ihr bereits die Option fehlt, über einen real existierenden Raum zu berichten. Nichtsdestotrotz bildet die Grundlage des Kunstwerks, die Rekonstruktion des „authentischen“ Planungsvorhabens, das Modell ab für einen sich in dieser Zeit äußerst real und über- all auf der Welt durchsetzenden Baustils. Stan Douglas verhandelt also weder eine lokale Geschichte noch ein bestimmtes Ereignis, sondern untersucht die fiktional gebliebene, konkrete Planung auf der Basis ihrer repräsentativen Stellvertreterschaft für Modernismus. Dabei hält er bei der Entwicklung des Kunstwerks an einem konkreten Gegenstand fest: Der Arbeiterwohnung des Typs B1 für Einzelpersonen des besagten Planungsvorhabens. Er lässt diese in Form einer maßstabsgetreuen Filmkulisse nachbilden und stattet den Set mit dem für den Stil der Zeit prototypischen Mobiliar aus: Radio, Bild einer Klee-Imitation eines lokalen Architekten und Malers, Sitzgelegenheiten, Lampen etc. Dieser Struktur der Nachbildung zum Zwecke der Repräsentation folgen auch die Rahmenbedingungen der in der Kulisse spielende Handlungen.

Donny und Bob, die zwei Protagonisten der Szene, die sich temporär die Singelwohnung teilen, entsprechen den Stereotypen einer TV-Serie, die 1968 in Vancouver produziert wurde. Sie repräsentieren den typischen Darsteller der Arbeiterklasse jener Zeit, aber eben der medial fiktionalen Repräsentation dieser Gesellschaftsgruppe, da zum Beispiel das Heer der farbigen Arbeiter damals im Fernsehen nicht vorkommen durfte.
Und die Schleife geht weiter: Wenn die Fiktion einer historisch fixierten, repressiven Raumplanung sich mit der Befragung von der medialen Repräsentation der Arbeiterklasse überlagert, dann geht es im nächsten Schritt der Produktion um die Repräsentation der eigentlichen Raum-, Zeit- und Handlungsbeziehungen in der abzudrehenden Szene: das heißt um die Funktion des inszenatorischen Kamerablicks in Bezug auf das Darstellungsziel. Stan Douglas dekliniert auch dies in einer mehrfach verschachtelten Bewegung durch.

Die Handlungsszenen, die von Gesprächen über konspirative Theorien und die Gewinnchancen beim Pferderennen schließlich in einen Kampf der beiden Protagonisten münden, werden aus 2 x 10 Kamerapositionen aufgenommen, die achsensymmetrisch auf das zu erfassende Interieur der Szene verteilt werden. Dies jedoch nicht, um eine im Schnitt stattfindende Rekombination im klassischen Sinne der Verdichtung von Narration oder um das klassische Modell der psychologisierenden Schuss-Gegenschuss Montage zu ermöglichen, sondern vielmehr um die repressive Struktur des Raumes als Bedingung für die Effekte auf der Handlungsebene zu erfassen.

Dieser Zusammenhang wird durch noch weitere Produktionsschritte bedingt, erschließt sich allerdings erst in der letztendlichen Präsentation im Ausstellungsraum. Auf zwei, um 7° seitlich geneigten, durch einen Spalt von 2 cm getrennten, nebeneinander liegenden Projektionsflächen wiederholt sich die Spielszene in einem sechs Minuten dauernden Loop. Dabei handelt es sich bei den Wiederholungen zwar um die Repetition der holzschnittartigen, artifiziell wirkenden Handlungen, allerdings verschiebt sich von Wiederholung zu Wiederholung ständig die räumliche Zuordnung der Darsteller zum Raum und zueinander. Die 2 x 10 Kameraeinstellungen wurden auf vier DVD übertragen, die mittels einer digitalen Steuerung immer neue Kombinationen der auf sechs Minuten begrenzten Spielszene zeigen. Hochgerechnet kommt man so auf ca. 20.000 Stunden Spieldauer, mehr als zwei Jahre, bevor sich eine Bildkombination tatsächlich wiederholt. Die 7° Neigung der Projektionsflächen bedingt zugleich den optischen Effekt, dass der Betrachter beide Videobilder scheinbar immer gleichwertig im „Überblick“ hat. Dieses optische Angebot eines allumfassenden Blicks wird allerdings permanent unterlaufen: durch die Brüche innerhalb der gezeigten Raumaus-, Rauman- und -überschnitte, und daraus resultierend durch die mal am Bildrand auftauchenden, mal im Spalt zwischen den Projektionen verschwindenden und mal auf den beiden Projektionsseiten sich spiegelverkehrt verdoppelnden Körper und Gesichter der Darsteller.

Das scheinbar panoptische Angebot verweigert sich dem Betrachter in der fortwährenden Verschachtelung und Klappung des Raumes sowie in der durch diesen hindurch laufenden Handlung. Damit wird das totalitäre Raumkonzept, das „Win, Place or Show“ zugrunde liegt, nicht in die Struktur einer historischen Vorführung, sondern in eine klaustrophobische, fragmentierte, fatal unausweichliche Konstante transferiert innerhalb derer die Handlungen den Bedingungen des Raumes folgen.

Unterlegt sind die Bilder durch den gleichmäßigen, alle Szenen begleitenden Ton eines endlosen Regens sowie eines im Hintergrund hörbaren Radios. Das Regengeräusch wird im Film mit dem einzigen, regelmäßig aber nicht gleichmäßig auftauchenden Blick aus dem Fenster des Appartements verknüpft, der das Panorama einer nächtlichen, im strömenden Regen liegenden Stadt freigibt, deren Gebäude dem beschriebenen Modell modernistischer Städteplanung entsprechen. Hier, im unwirtlichen Außen, potenziert sich die fatale Situation, die sich im hermetischen Innen der Wohnung vollzieht. Das im Hintergrund leise hörbare Radiogedudel scheint von einem auf einer Kommode stehenden Radio auszugehen. Irritierend ist allerdings, dass man gelegentlich deutsche Sprecher oder vertraute Jingles wahrnimmt: Der Radiosound wird bei jeder Präsentation von der regionalen Rundfunkstation des jeweiligen Ausstellungsortes eingespeist. Stan Douglas durchwebt hier auf einer weiteren Ebene den fiktionalen Handlungsraum des Films mit der übergeordneten, repräsentativen sowie übertragbaren Thematik von „Win, Place or Show“.

Hans D. Christ

1 Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, Hg. Paul Raabe, Frankfurt am Main, 1987, S. 56
2 ebda. S. 58
3 ebda. S. 77
4 ebda. S. 81

Förderer und Kooperationspartner

Ein Projekt
In Kooperation mit dem hartware medien kunst verein
Im Rahmen der Duisburger Akzente und Vlaanderen in NRW

KuratorInnen
Hans D. Christ, Iris Dressler
in Zusammenarbeit mit Söke Dinkla und Eva Bracke

Technische Leitung
Hans D. Christ, Uwe Gorski

Assistenz
Bernd Gorski

Künstlerassistenz
Colin Griffiths (Stan Douglas)

Support
Stadt Duisburg
Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes NRW
Botschaft von Kanada

Links
Museum Küppersmühle

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